Diesmal möchte ich euch eine interessante Liedlandschaft im Norden Bayerisch-Schwabens vorstellen – das Kesseltal. Idyllisch windet sich die Kessel südlich des Rieskraters auf 25 Kilometer durch die Höhen des Schwäbischen Jura bis zur Donau. Dieser kleine Landstrich ist aber nicht nur landschaftlich höchst reizvoll, sondern auch sehr interessant, was die Liedüberlieferung betrifft. Bei einer Feldforschungsexkursion zur Vorbereitung des Seminares „Volksmusikforschung und –pflege in Bayern“, das 1980 in Schwaben stattfand, wurde zum ersten Mal von wissenschaftlicher Seite der Versuch unternommen, das noch lebendige Liedgut auf Tonband zu dokumentieren. Die Fülle und der Inhalt der Aufzeichnungen waren ungewöhnlich. Neben zahlreichen Tanzliedern und Schleifern (das ist ein anderer Name für ‚Zwiefache’), beherrschten die Älteren noch ungewöhnliche Balladen und andere Liedformen, die sich nur noch hier erhalten haben. Die aufgezeichneten Lieder waren so interessant, dass es mich als junge Studentin ins Kesseltal gezogen hat, um dort selbst Feldforschung zu betreiben und Lieder aufzuzeichnen.
Im Sommer 1988 wanderte ich von Dorf zu Dorf und versuchte systematisch das alte Liedgut zu dokumentieren. Ich erinnere mich noch sehr gut an einen der ersten Abende, zu dem gleich mehrere Sänger gekommen waren. Wir saßen in einem Vereinsheim, denn ein Wirtshaus gab es nicht und ich wurde mit einer Fülle von Liedern überschüttet, die mich nach mehreren Stunden intensiven Zuhörens völlig erschöpft, aber auch restlos begeistert zurückließ. Ich begegnete im Laufe meiner Recherchen vielen interessanten Sängerpersönlichkeiten, die heute noch vor meinem inneren Auge auftauchen, wenn ich die entsprechenden Lieder singe. Noch oft bin ich nach meiner ersten Wanderung ins Kesseltal zurückgekehrt und habe viele schöne Stunden mit „meinen“ Sängern und ihren Liedern verbracht. Jedesmal wieder berührt von der großen Begeisterung und Intensität, von der diese Singbegegnungen getragen waren.
Warum sich gerade im Kesseltal ein so reicher Schatz an ungewöhnlichen Liedern bis in unsere Tage erhalten hat, kann man nicht genau erklären. Zumal schon in den 1980er Jahren geklagt wurde, dass es dort kaum noch Wirtshäuser gäbe, die ja bekanntermaßen eine der wichtigsten Schauplätze des gemeinsamen Singens sind. Fest steht, dass die Kesseltaler auf jeden Fall sehr singlustig waren und sie bewusst Gelegenheiten gesucht haben, „ihre“ Lieder gemeinsam zu singen. Und nicht zuletzt durch das Interesse der Liedforscher wurde ihnen auch bewusst, dass ihre Lieder und ihr Singen etwas Besonderes sind und dieses Wissen hat sie in ihrem Tun bestärkt. Eine Auswahl der schönsten und interessantesten Liedaufzeichnungen habe ich in dem Büchlein „Lieder aus dem Kesseltal – Ergebnisse neuerer Feldforschung zwischen Donau und Ries“ veröffentlicht.
Aber nun zu dem Lied, das wir aus diesem Liedschatz für euch ausgewählt haben:
Es handelt sich um die Ballade „Es war einmal ein junger Soldat“. Über den Liedtypus der Ballade habt ihr ja schon im vorigen Beitrag einiges erfahren. So wisst ihr ja jetzt auch, dass viele Balladenstoffe in Varianten im ganzen deutschen Sprachraum verbreitet waren. So auch die Ballade vom jungen Soldaten, der in anderen Fassungen auch als Schwarzschlossergesell, Faßbindergesell oder Zimmergesell daherkommt. Wichtig ist bei diesem Balladenstoff der Standesunterschied vom armen Soldaten bzw. Handwerker zum Adel, in diesem Fall einem Grafen. Der junge Soldat setzt sich über alle Standesunterschiede hinweg und verbringt, aktiv verführt von der Markgräfin, die Nacht mit ihr. In der Kesseltaler Fassung findet sich hierfür eine kreative und pfiffige Metapher: „Auf ihrem weißen Kleide, auf ihrem weißen Federbett, da schlief fürwahr ein junger Soldat, des andre sag i net!“
Das ist auch gar nicht nötig, denn damit ist wirklich alles gesagt und hier endet auch die Variante aus dem Kesseltal. In anderen Fassungen entdeckt der Markgraf den Betrug und sinnt auf Rache. Der Soldat soll hängen an einem Galgen aus ‚Gold und Edlstein’. Aber zum Schluss wird doch noch alles gut, der junge Liebhaber wird durch ein kaiserliches Dekret aus seiner prekären Lage befreit. So darf er unbeschadet und von der Markgräfin auch noch fürstlich entlohnt seiner Wege ziehen. In der Fassung der Geschwister Schiefer aus Laufen heißt es am Schluss sogar: „Und wennst dei Gelderl versoffen hast, so kummst und schlafst wiederum bei mir!“ Eines ist klar, in dieser Ehe hat die Markgräfin die Hosen an.
Die Variante aus dem Kesseltal konnte während der Feldforschungsexkursion 1980 von Wolfgang A. Mayer (zusammen mit Franz und Uschi Schötz, Luise Lutz und Max-Josef Liertz) aufgezeichnet werden. Vorgesungen hat sie Johann Feldmeier (1914 – 1987) aus Aufhausen.
Das Besondere an dieser Ballade aus dem Kesseltal ist, dass sie nicht nur gesungen, sondern auch bis in die 1960er Jahre auf dem Tanzboden getanzt worden ist. In der üblichen Praxis des ‚Asing’ (Ansingens) haben die Tänzer mit ihren Tänzerinnen im Arm, auf der Tanzfläche stehend das Lied angestimmt und so der Musik ihren Wunsch kundgetan. Diese musste dann die Melodie nachspielen, zu der dann Walzer getanzt wurde. Darauf folgten dann in der gleichen Weise die weiteren Strophen (immer abwechselnd im Stehen singen, dann zur Musik tanzen). Interessant bei dieser Variante ist auch die letzte Strophe, bei der sich der Rhythmus und die Melodie ändert. Es handelt sich um einen schnellen Dreher, der nach dem Singen von den Musikanten mehrmals immer schneller nachgespielt wird – ein sehr origineller und energiegeladener Schlusspunkt.
Und nun wünschen wir euch viel Freude beim Mitsingen!
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5 Antworten
Erinnerung an unseren letzten gemeinsamen Singtag, vielen Dank dafür und hoffentlich bald mal wieder.
Liebe Grüße Renate
Diese Ballade ist seit vielen Jahren im Repertoire des „Bogener Frauengsang“. Davon existiert auch eine Aufnahme des Bayerischen Rundfunks aus dem Jahr 1996. Diese wurde anlässlich der Veranstaltung „Europatage der Volksmusik“ in Bogen aufgenommen neben der Ballade über das Schicksal der Agnes Bernauer: „Es reiten drei Reiter zu München hinaus“.
Leider kann diese Gesangsgruppe seit über einem Jahr schon nicht mehr singen.
Sehr schön!!
Wenn Corona vorbei ist, wär das eine prima Sache für unsere Tanzgruppe.