Viele unserer Lieder haben wir von älteren Sängerinnen und Sängern gelernt. So auch das schöne Lied vom Handwerksgesell. Es gibt viele verschiedene Varianten davon im ganzen deutschen Sprachraum. In der Form wie wir es singen, haben wir es vom Ehepaar Franziska und Winfried Säckl aus Augsburg gehört. Eigentlich stammt diese Variante des Liedes aus Lustenau in Vorarlberg. Wie kam es jetzt aber nach Augsburg? Das ist eine ganz einfache Geschichte:
Bei einem Urlaub in Vorarlberg hörten Franzi und Wini das Lied im dortigen Rundfunk und waren sofort davon berührt. Mit einer Kassettenaufnahme haben sie es nach Hause gebracht und es sich angeeignet. Als begeisterte Sänger waren sie immer auf der Suche nach neuen Liedern, um ihr Repertoire zu erweitern. Vielleicht kommt euch das bekannt vor? Vielleicht ist dem einen oder der anderen von euch auch schon auf diese oder eine andere Weise ein Lied zugeflogen? Weil ihr es gehört habt und es euch berührt hat. Denn ich glaube, das ist das Entscheidende und das Stärkste – wenn man ein Lied hört. Das kann ein gedrucktes Liedblatt niemals ersetzen. Denn, wie heißt es so schön, das Wichtigste steht nicht in den Noten und ich glaube, das gilt für das Volkslied ganz besonders. In ein Notengerüst gezwängt wirken viele Lieder oft banal und einfach. Erst beim freien Singen entfalten sie ihren ganzen Zauber und ihre Kraft. Das ist sicher auch die älteste Form der Liedüberlieferung – das Hören, das Vor- und Nachsingen ohne Noten, von Ohr zu Ohr, von Mund zu Mund. Auf diese Weise verändern sich Lieder oft unbemerkt – Details werden ausgetauscht, eine Melodiewendung verändert, eine Strophe vergessen oder eine andere dazu gedichtet und schon ist eine Variante entstanden. Das macht das Ganze lebendig, vorausgesetzt man lässt diesen Prozess zu. Für mich sind die so gelernten Lieder auch immer mit den Menschen verbunden, von denen ich sie gehört habe und so bleiben diese für mich auch lebendig. So wie bei Franzi und Wini Säckl aus Augsburg, die immer vor meinem inneren Auge auftauchen, wenn ich das Lied vom Handwerksgesell singe.
Die beiden waren seit den 1990er Jahren bei vielen unserer Singveranstaltungen als Teilnehmer mit dabei und schon bald fiel mir auf, dass sie wunderbar zweistimmig zusammen singen konnten und über ein sehr interessantes Liedrepertoire verfügten. Das machte mich neugierig und so fragte ich genauer nach:
Franzi ist 1944 in Soroksár, einem deutschen Dorf ganz in der Nähe von Budapest, geboren. In Folge des zweiten Weltkrieges mussten die meisten deutschen Bewohner ihre Heimat verlassen und so kam die kleine Franzi im Alter von zwei Jahren mit ihrer Familie nach Augsburg.
In ihrer Familie wurde viel und gern gesungen, in der ungarischen Heimat und später auch in der neuen Heimat in Augsburg. Für ihre Eltern war Singen ein Lebenselixier. Viele Erlebnisse aus der alten Heimat kennt Franzi nur aus den Erzählungen der Eltern. Sie selbst war ja noch ein kleines Kind. Hier erzählt sie davon:
Vor allem ihre Mutter hat den Keim für die Singbegeisterung von Franzi gelegt, und von ihr hat sie auch viele interessante Lieder aus der ungarndeutschen Heimat gelernt. Es gab kein Familientreffen, bei dem nicht gesungen wurde – deutsche und auch ungarische Lieder.
Wini stammt ursprünglich aus dem Sudetenland. Er ist 1937 in Pfraumberg im Egerland geboren. Auch er musste 1946 mit seiner Familie die Heimat verlassen. Sie fanden in Augsburg ihren neuen Lebensmittelpunkt. Und auch Wini erzählt, dass das Singen in seiner Familie eine ganz große Rolle spielte.
Neben dem Singen war das Tanzen eine große Leidenschaft für sie. Bei einer Tanzveranstaltung haben sie sich 1961 in Augsburg auch kennengelernt.
Ich erinnere mich an viele durchsungene Nächte mit den beiden auf unseren Kursen. Sehr beeindruckend fand ich auch, dass sie nie aufhörten, nach neuen Liedern zu suchen, die zu ihnen passten. Ihr Repertoire war beachtlich und sehr vielfältig. So waren sie bei jedem Fest gern gesehene Gäste, denn sie hatten immer ein passendes Lied mit im Gepäck. Ihre Singlust war wirklich ansteckend und inspirierend.
Aber hört es euch selbst an.
Ich hoffe, das Lied gefällt euch genauso gut wie mir, und ich lade euch jetzt ein, den Handwerksgesell mit uns zu lernen und mitzusingen. Viel Freude damit!
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2 Antworten
Liebe Dagmar,
auf BR Heimat habe ich in der Morgensendung von Liederlust gehört und bin ganz begeistert, wie sorgfältig alles aufbereitet ist und auch von den vierstimmigen Gesängen. Es ist eine wunderschöne Möglichkeit Lieder zu lernen und zu singen – gerade in der Corona Zeit. Auch die Sangesbrüder und -schwestern unseres gemischten Chores sind begeistert. Da die Chorsänger es gewohnt sind, nach Noten zu singen, werden die Tenöre und Bässe vielleicht ihre Stimme in dem Liedblatt vermissen. Habt ihr es absichtlich nicht dazu notiert?
Herzliche Grüße aus dem Bayer. Wald von Astrid Roßmark-Lorenz
Liebe Astrid,
Danke für die positive Rückmeldung. Nun zu deiner Frage: Ja, wir haben bewusst keinen mehrstimmigen Satz veröffentlicht, denn die Intention unseres Liedlernblogs ist es, die Mehrstimmigkeit über das Hören zu erlernen. Dies ist ein völlig anderer Prozess, als eine Stimme nach Noten zu singen, auch wenn es am Anfang ungewohnt und mühsam ist. Unsere Mehrstimmigkeit ist auch nicht mit einem Chorsatz vergleichbar, sondern wir suchen uns unsere Stimme dazu, so wie wir es aus der Praxis der überlieferten Mehrstimmigkeit kennen. Man kann die Lieder jederzeit auch zweistimmig singen, die dritte Stimme ist eine Ergänzung, aber nicht zwingend notwendig, und dazu ein einfacher Funktionsbass. Auf diese Weise gibt es auch immer mehrere Möglichkeiten eine zweite oder dritte Stimme oder einen Bass zu singen. Wir machen mit unserer Aufnahme einen Vorschlag, der gerne auch beim Selber zurechtsingen verändert werden darf. Das wäre durch einen gedruckten Notensatz dann doch sehr festgelegt, was ich gerade nicht möchte. Probiert es doch einfach aus! Herzliche Grüße