Die fränkische Online-Singstunde

Schon seit über einem Jahr hat aufgrund der Corona-Pandemie ein kultureller Stillstand unsere Gesellschaft fest im Griff. Der damit einhergehende Verlust von realen Begegnungen mit Musik, Tanz und Gesang belastet die Menschen mehr und mehr und auch die Arbeit in der Volksmusikpflege ist sehr stark davon betroffen. Nicht nur, dass diese Arbeit grundsätzlich darauf abzielt, Menschen mit Musik zusammenzuführen, sondern darüber hinaus ganz stark auch durch die Tatsache, dass Singen, Tanzen, Musizieren auf einmal in Verdacht gerieten, so etwas wie ein Gesundheitsrisko zu sein. Natürlich ist dies weiterhin nicht der Fall, im Gegenteil: Es ist seit langem wissenschaftlich erwiesen und unsere Erfahrung bestätigt dies immer wieder neu, dass Singen, Tanzen und Musizieren eben gesundheitsfördernde menschliche Handlungen sind, die man nicht ohne Verlust einfach beiseite legen kann. Klar ist dagegen, dass durch die Infektionsgefahr nur Zusammenkünfte in Gruppen zur Zeit ein Gesundheitsrisiko darstellen, nicht das Singen, Tanzen, Musizieren selbst.
Nur wie kann man in solchen Zeiten Singen fördern, wenn man die Menschen nicht zusammenführen darf? Es entstand die Idee: Indem man zu ihnen nach Hause kommt!


In dieser Zeit der physischen Kontaktvermeidung hat sich Kommunikation übers Internet endgültig durchgesetzt: Videokonferenzen sind von einer technischen Herausforderung und einem Tool für Spezialisten zur fast schon alltäglichen Handlungsweise der breiten Bevölkerung geworden.
Also: Warum nicht einmal versuchen, per Videokonferenz mit den Menschen zu singen?
Ehrlich gesagt war ich im vergangenen Jahr noch sehr skeptisch, über digitale Medien praktische Volksmusikpflege zu betreiben. Ich hielt es für besser, zu warten und sich vorzubereiten, um sofort nach der Pandemie wieder loslegen zu können. Die lange Dauer und das nicht absehbare Ende der Beschränkungen veranlasste mich nun aber im Januar 2021 dazu, eine erste Online-Singstunde zu versuchen. Um es vorweg zu nehmen: Es machte von Beginn an so viel Freude, dass wir seitdem jede Woche miteinender singen, mittlerweile schon über 20 mal – jeweils mit um die 150 Personen. Man kann sich das Ganze vorstellen wie eine Art volksmusikpflegerischen Hausbesuch, nur digital. Die Menschen singen zu Hause – alleine, als Paar oder in der Familie – angeregt durch eine Vorsängerin bzw. einen Vorsänger.


Wie jede Veranstaltung muss natürlich auch eine Online-Singstunde gut geplant und vorbereitet sein. Zunächst tauchen technische Fragen auf: Welche Konferenz-Plattform nutzt man, damit die Teilnahme möglichst einfach und niederschwellig ist und auch weniger technikaffine Menschen ohne Probleme teilnehmen können? Wir entschieden uns für eine deutsche Plattform (senfcall.de), die zwar in der Qualität der Klangübertragung nicht ganz dem Standard der großen amerikanischen Anbieter standhalten kann, aber dafür datenschutzrechtlich unbedenklich ist.
Dann gilt es natürlich nicht nur passende Lieder auszusuchen, sondern auch die Vermittlungsmethode zu überdenken. Ganz auswendig zu singen, wie es bei uns sonst üblich ist, erscheint in diesem Format zu sperrig, zu langatmig. Durch die Distanz erkennt man als Vorsänger/-in ja nicht, wie es um die Aufnahmefähigkeit der Mitsingenden bestellt ist. Also wird der Text, damit das Ganze eben nicht zu zäh wird, per Präsentation angeboten. Allerdings nur der Text, denn bei der Melodie zeigt unsere Erfahrung, dass sie oft besser und schneller über die Ohren aufgenommen wird. Auch die Merkfähigkeit erhöht sich damit bei vielen Menschen. Die kompletten Liedblätter gibt es im Anschluss per Rundmail an alle Teilnehmenden, damit man für sich zu Hause weitersingen kann.

Das Büro der Beratungsstelle wurde kurzerhand zu einem „Filmstudio“ umfunktioniert.


Des weiteren ist klar, dass aufgrund der Verzögerungen und der technischen Einschränkungen auf dem digitalen Weg, ein gemeinsames Singen, also ein gegenseitiges Hören, nicht möglich ist. Die Mikrophone der Mitsingenden müssen also während des Singens auf jeden Fall abgeschaltet sein. Somit bleibt für alle Mitsingenden, dass sie den Vorsänger bzw. die Vorsängerin hören, umgekehrt aber ist nichts zu hören. Das macht die Liedvermittlung nicht ganz einfach. Man braucht entsprechende Erfahrung, um zu wissen, wie lange es normalerweise im Mittel dauert, bis eine Melodie gelernt ist bzw. an welcher Stelle evt. Schwierigkeiten in einer Melodie auftauchen könnten. Natürlich passiert es zwischendurch auch, dass es einmal der einen etwas zu schnell und dem anderen etwas zu langsam geht. Das aber hat sich schon nach kurzer Zeit eingependelt. Außerdem gibt es die Möglichkeit in einem parallel verlaufenden Chat, auch einmal die ein oder andere Bitte nach einer evt. Wiederholung zu äußern.
Apropos Chat: Für mich fast etwas unerwartet, hat sich dieser zu einem sehr wichtigen Kommunikationstool für das Gemeinschaftsgefühl während der Singstunde entwickelt – sowohl der öffentliche, als auch der private Chat. Er eröffnet parallel zum Singen eine zweite Kommunikationsebene, die für die Verbundenheit der Teilnehmenden untereinander ebenso wichtig ist, wie das Singen selbst. Man grüßt sich, macht ein Witzchen, tauscht sich aus, merkt etwas an zu einem Lied und verabschiedet sich. Somit hat man damit die Möglichkeit, nahe dabei zu sein und „mitreden“ zu können.


Nach der ersten Singstunde stellte sich schnell heraus, dass sie viel abwechslungsreicher gestaltet werden kann, wenn nicht nur eine Person die Rolle des Vorsingenden übernimmt. Schnell konnten einige ehrenamtliche, freischaffende und hauptamtliche Kolleginnen und Kollegen dafür gewonnen werden – Steffi Zachmeier, Lissy Heilgenthal, Bernd Dittl, Carolin Pruy-Popp, Dagmar Held und Simone Lautenschlager. Sie alle erklärten sich sofort bereit mitzuwirken. Diese Vielfalt der Stimmen macht diese Online-Singstunde zu einer (gefühlt fast schon) echten Zusammenkunft.


Von Beginn an erreichen uns regelmäßig zahlreiche Rückmeldungen, die zeigen, dass wir mit der Online-Singstunde wohl zur rechten Zeit am rechten Platz einen Nerv getroffen haben. Hier einige Zitate:
• Vielen Dank für das wundervolle Angebot der Singstunde. Ich habe richtiggehend das Wunder des Singens an der Wirkung auf meine Stimmung gespürt. Besser als jedes pharmazeutische Antidepressivum. […] Deshalb möchte ich mich für alle weiteren Online-Singstunden anmelden.
• Es war einfach super! Ich habe gemerkt, wie mir das Singen gefehlt hat. War hinterher super drauf. Vielen herzlichen Dank dafür. Freu mich schon auf den nächsten Freitag
• Die Singstunden finde ich Klasse. Danke für die Liedertexte. Die mir teilweise neu sind, aber immer gut zum singen. Danke! Ich möchte bitte alle Freitage buchen und bitte jeweils um die jeweiligen Einbuchungsdaten. […] Die online-Singstunden sind ein guter Ersatz, für unsere im gesamten Jahr nicht stattgefundenen Singproben unseres Männergesangsverein und Auftritte
• Vielen herzlichen Dank für den schönen, musischen Singabend letzten Freitag. Es hat echt super geklappt u. auch Spaß gemacht. Vielleicht werd ich das nächste mal noch eine Freundin zu mir einladen, zu zweit ist es bestimmt noch lustiger am PC:) Und…vielen herzlichen Dank auch für das Noten- u. Textmaterial, echt klasse und ich hab auf meinem Akkordeon auch schon ein Stück davon geübt. Es war gut, dass Du sie vorgesungen hast, dann gingen sie leichter ins Ohr. Ich kannte nämlich leider noch nicht alle Lieder, aber bin schon auf den nächsten Abend gespannt!
• Wir haben deine Lieder immer noch als Ohrwürmer im Kopf. Es war kein Ersatz fürs „Echte Treffen“, aber das einzig Richtige in diesen Zeiten. Trotz allem kam ein Gemeinschaftsgefühl auf und es war richtig schön, dich und alte Bekannte wieder mal zu sehen. Wir freuen uns auf die nächsten Male.
• Das war sooo schön! Durch die Videokonferenz wieder mit allen Lieben verbunden zu sein […] Es hat uns richtig gut getan.
• Wir sind überglücklich, es hat uns sehr gut gefallen. Sie ging richtig ins Herz rein, die grad zu Ende gegangene SINGSTUNDE. ich sag einfach eine GLÜCKSSTUNDE. Es hat sooo gut getan, danke für die super Idee. […] Wir werden heute so gut schlafen.

Diese Aussagen zeigen, wie wichtig für viele Menschen das (Miteinander-)Singen ist. Es ist eben keine Nebensächlichkeit, kein unwichtiges kleines Hobby, das man einfach mal so weglassen kann. Es ist für viele Menschen ein absolutes Grundbedürfnis, es ist existenziell, ein notwendiger Faktor des menschlichens Seins.
Dies lehrt uns, dass die volksmusikpflegerische Arbeit, also Menschen auf einfache und niederschwellige Art und Weise zum traditionellen Singen, Musizieren und Tanzen zu bewegen, weiterhin not tut. Sicher ist, dass die Zeit kommen wird, in der man die Pandemie hinter sich lässt und wieder in größerer Gruppe gemeinsam in einem Raum singen kann und dabei auch die Gemeinschaft klingen hört. Alle an der Online-Singstunde Beteiligten sehnen sich danach. Und dennoch werden wir diese digitale Form einer Singstunde auch dann zusätzlich zu den hoffentlich bald wieder möglichen üblichen Veranstaltungsformen beibehalten und regelmäßig anbieten. Das eigene Für-sich-selbst-Singen als Möglichkeit der Gestaltung des Alltags zu entdecken und der Aufbau von dazu notwendigen persönlichen Liedrepertoire steigert die individuelle Lebensqualität und -freude. Das ist seit jeher ein Ziel der Volksmusikpflege. Die Online-Singstunden können hier eine zusätzliche (aus der Krise gelernten) Methode werden, um auf relativ unkomplizierte Weise und ohne großen Aufwand – auch überregional, ohne weite Anfahrtswege – Menschen zu erreichen, um so das eigene Singen für sich zu Hause zu entdecken, zu fördern und zu unterstützen.

Informationen zu den nächsten Terminen finden Sie hier:
https://www.heimat-bayern.de/fachbereiche/volksmusik/veranstaltungen.html

Veröffentlicht von

Franz Josef Schramm

Leiter der Beratungsstelle für Volksmusik in Franken, Eibelstadt

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