Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein Fuß,
hat ein’ Zettel im Schnabel, von der Mutter ein’ Gruß.
Ich bin mir sicher, die meisten von euch kennen dieses Volkslied aus der Schule und haben auch sofort die passende Melodie dazu im Kopf. Von der Forschung wird es zu den sogenannten „Kunstliedern im Volksmund“ gerechnet, da seine Herkunft ziemlich genau rekonstruiert werden kann. 1824 wurde es erstmals in der Liederposse „Die Wiener in Berlin“ des Schauspielers und Schriftstellers Karl von Holtei in Berlin präsentiert. Die Melodie geht angeblich auf Johann Christoph Kienlen zurück, der sich wohl von schon bestehenden österreichischen Volksliedern inspirieren ließ. Seit 1828 verbreitete sich dieses Lied über Gebrauchsliederbücher rasant im gesamten deutschen Sprachraum. Ursprünglich handelt es sich um ein Liebeslied, in dem der Vogel dem Dirndl einen Brief vom Burschen, der in der Fremde weilt, überbringt. Wie so viele andere Volkslieder auch, wurde es kindgerecht überarbeitet und das ‚Dirndl’ durch die ‚Mutter’ ersetzt. In dieser Form kennen wir es heute.
In der Schallplattensammlung „Liebeslieder vom Böhmerwald bis zur Wolga – Authentische Tonaufnahmen 1953 – 1976“ entdeckte ich eine Variante des Liedes vom Vogel, die mich sofort elektrisiert hat und die mich bis heute begleitet. Sie beeindruckt durch ihre wunderbaren Melodiebögen und ihre große Ausdruckskraft. Und deshalb haben wir sie auch für euch ausgewählt. Die russlanddeutschen Sängerinnen Maria Wohn und Kathi Frank haben sie aus Rothammel, einer deutschen Siedlung an der Wolga, nach Deutschland mitgebracht, wo es Johannes Künzig 1958 aufzeichnen konnte.
Ehe sie verklingen…..
Der Volkskundler Johannes Künzig erkannte, dass mit der Auflösung der Dorfgemeinschaften in den Sprachinseln Südosteuropas und Russlands nach dem zweiten Weltkrieg, ein großer Schatz an Volksliedern und anderen Überlieferungen verklingen würde. Er begann, zusammen mit seiner Assistentin und späteren Ehefrau Waltraud Werner, bereits in den Auffanglagern für die Heimatvertriebenen die Lieder und Erzählungen dieser Menschen zu dokumentieren. Eigentlich eine unglaubliche Vorstellung: er bat die Menschen, die gerade alles verloren hatten – ihr Zuhause, ihr Hab und Gut, vielleicht auch ihre Liebsten – ihnen in dieser großen Not ihre Lieder vorzusingen. Und sie haben es gemacht. Viele Jahre lang hat er die Aussiedler in ihrer neuen Heimat in ganz Deutschland aufgespürt und sich vorsingen und erzählen lassen. Wunderbare und sehr beeindruckende Zeugnisse einer alten Sing- und Erzählkultur sind so entstanden. Johannes Künzig (1897 – 1982) und Waltraud Werner-Künzig haben diesen Schatz auf Schallplatten veröffentlicht und so allgemein zugänglich gemacht. Im von ihm gegründeten ‚Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa’ wird dieser einzigartige Nachlass aufbewahrt. Hier könnt ihr noch mehr erfahren:
https://ivdebw.de/bibliothek_und_archive/kuenzig_nachlass
Kam ein Vogel hergeflogen – von der Wolga bis an die Fulda
Maria Wohn, die diese wunderbare Variante vom Vogel zusammen mit ihrer Jugendfreundin Kathi Frank, überliefert hat, stammt aus dem wolgadeutschen Dorf Rothammel. Beiderseits der Wolga gab es zahlreiche deutsche Siedlungen, die zu Zeiten Katharinas der Großen entstanden sind. Die Siedler, die überwiegend aus Bayern, Baden, Hessen, der Pfalz und dem Rheinland kamen, folgten in den Jahren 1763 bis 1767 der Einladung der deutschstämmigen Zarin Katharina II. wo sie 104 Dörfer gründeten. Sie wurden angeworben, um die Steppengebiete an der Wolga zu kultivieren und die Überfälle der Reitervölker aus den Nachbargebieten einzudämmen. Es entwickelte sich in dieser Region eine blühende Agrarwirtschaft mit Exporten in andere Regionen Russlands. Mit Gründung der Sowjetunion erfolgten große Einschränkungen und Repressalien. Tausende von Wolgadeutsche starben 1921/22 infolge einer Hungersnot, weil man ihnen ihre Getreideernte wegnahm und sie enteignete. Viele Wolgadeutsche wurden nach Kasachstan und Sibirien verschleppt oder sind in die USA und nach Südamerika emigriert. Wenn ihr noch mehr über die wechselvolle Geschichte der Wolgadeutschen erfahren wollt, dann findet ihr hier noch mehr interessante Informationen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Wolgadeutsche
Nur ein kleiner Teil der Wolgadeutschen hat in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Eine davon war Maria Wohn, die über einen außergewöhnlichen Liederschatz verfügte. Nach einer wahren Odyssee hat sie in Kassel eine neue Heimat gefunden (im Video haben wir den Wohnort von Frau Wohn fälschlicherweise mit Straubing angegeben). In einer Stadtrandsiedlung von Kassel lebte sie in einem kleinen Mansardenstübchen und arbeitete als Taglöhnerin. Johannes Künzig hat sie 1952 erstmals und dann noch einige Male später besucht, um ihren interessanten Liedschatz aufzuzeichnen. Er war sichtlich beeindruckt von ihrer Persönlichkeit und ihrer Art zu Singen und schreibt dazu in „Liebeslieder vom Böhmerwald bis zur Wolga“:
„Hebt Frau Wohn zu singen an, so klingt ein jedes ihrer Lieder, als ob sie’s gestern gerade noch in der heimatlichen Runde gesungen hätte. …. Man spürt ergriffen, wie diesen Menschen das Singen ein nicht minderes Bedürfnis ist als uns allen das Essen und Trinken.“
Vielleicht habt ihr dieses Gefühl ja auch schon einmal verspürt. Das Gefühl, sich so richtig satt zu singen. Ein gutes Gefühl! Dazu möchten wir euch jetzt einladen. Diesmal dürft ihr mit Johanna und Magdalena Held und Lukas Linzmeier mitsingen, bei denen ich mich herzlich für ihren schönen Gesang und ihre Mitarbeit bedanken möchte. Bedanken möchte ich mich auch bei der Kreisheimatpflegerin Bärbel Mettenleiter-Strobel, die uns die Kreisheimatstube in Stoffenried aufgesperrt hat – ein kleines, aber sehr feines Freilichtmuseum im Landkreis Günzburg. Viel Freude beim Zuhören, Schauen und Mitsingen!
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