LIEDERLUST ♪ 54 – Unter einer grünen Linde

Der im Deutschen am meisten besungene Baum ist die Linde. Kein Wunder, denn Linden sind eindrucksvolle Bäume und bilden ein mächtiges Blätterdach, wenn sie einen Platz haben, an dem sie ungehindert wachsen können. Im Sommer verströmen ihre Blüten einen betörenden Duft. Sie wurden als Symbol des Friedens gepflanzt und unter ihren ausladenden Ästen wurde Gericht gehalten. Die grünende Linde mit ihren herzförmigen Blättern ist aber auch ein Symbol für die Liebe. Dort treffen sich die frisch Verliebten. Entsprechend sind Lieder, in denen die Linde vorkommt, meistens auch Liebeslieder. Aber Vorsicht, wenn die Blätter abfallen. Dieses Warnzeichen sollte man nicht ignorieren. Warum, das erfahrt ihr in unserem neuen LIEDERLUST-Lied.

Entdeckt habe ich dieses schöne Liebeslied auf einer Schallplatte mit authentischen Tonaufnahmen des dobrudschadeutschen ‚Singers’ Paul Ruscheinski. Aufgezeichnet und veröffentlicht hat sie der Freiburger Volkskundler Johannes Künzig (1897 – 1982), dessen Lebensthema die Erforschung und Dokumentation der Volkskunde der Deutschen in und aus Ost- und Südosteuropa war.

Paul Ruscheinski stammte aus der Dobrudscha, genauer gesagt aus Karamurat, einem Bauerndorf nahe der Westküste des Schwarzen Meeres, in dem neben Rumänen und Tataren 1500 deutsche Bauern siedelten. Die Dobrudscha ist eine historische Landschaft zwischen dem Unterlauf der Donau und dem Schwarzen Meer im heutigen Grenzgebiet zwischen Rumänien und Bulgarien. 1940 wurden die Dobrudschadeutschen umgesiedelt und sind heute in alle Winde zerstreut.

Paul Ruscheinski und Johannes Künzig.

Paul Ruscheinski (1890 – 1975) gehörte zu den größeren Bauern in Karamurat und war ein liedkundiger Sänger. Vor allem war er auch der „Singer“ (Kantor), der den Kirchenchor leitete und im Gottesdienst das Harmonium spielte. Als er 1940 mit seinen Landsleuten seine Heimat verlassen musste, lag eine Odyssee vor ihm, die schließlich in Steinach bei Straubing endete. Johannes Künzig besuchte ihn erstmals im Oktober 1956 und schreibt:

„Recht bescheiden, um nicht zu sagen notdürftig, war er mit seiner Frau in einem ehemaligen Pferdestall des herrschaftlichen Gutes Steinach untergebracht. Dass Paul Ruscheinski einst in seiner dobrudschadeutschen Heimat Karamurat der beste Sänger weitum war, das hatten wir inzwischen auch von seinen Landsleuten wiederholt gehört…..
Wir erlebten Paul Ruscheinski als einen einmalig begeisterten, von Grund auf musikalischen und temperamentvollen Liedersänger und konnten schon bei unserem ersten Besuch eine stattliche Zahl seiner geistlichen und weltlichen Lieder aufnehmen. Bei einem erneuten Besuch – ein paar Jahre später in Straßkirchen – erlebten wir, als auch seine Tochter Dore Söhn und sein Schwiegersohn Peter Söhn mitgesungen haben, ein mehrstimmiges Singen von einmaliger Schönheit und Originalität. Wie Paul Ruscheinski dabei souverän Rhythmus und Tempo der Mitsingenden bestimmte, auch klangliche „Hohlräume“ bald oben, bald unten füllte – das alles kann eine Notennachschrift natürlich nur unvollkommen ausdrücken. Überhaupt war Paul Ruscheinski erst beim gemeinsamen Singen ganz in seinem Element – als Stimmführer. Kaum war ein ernstes, vielleicht auch ein trauriges und gefühlvolles Lied ausgeklungen, stimmte er ein übermütiges, ein lustiges Burschenlied, ein keckes Liebeslied samt Draufliedchen an – und da riß er alle mit. Niemand, der dazu gekommen wäre, hätte auch nur ahnen können, was dieser fromme und zugleich wieder überschäumend frohe Sänger an Leid hatte durchmachen müssen. Paul Ruscheinski war und blieb trotz aller Schicksalsschläge ein innerlich froher Mensch, eine bewundernswerte Persönlichkeit.“
(Zitat aus dem Begleitheft der Schallplattensammlung „Aus dem Liedgut des dobrudschadeutschen Singers Paul Ruscheinski“. Authentische Tonaufnahmen 1956-1973 von Johannes Künzig und Waltraud Werner, Freiburg 1977.)

Beim Kloster Roggenburg haben wir einen schönen Platz zum Aufnehmen gefunden.

Johannes Künzig hat den einmaligen Liederschatz von Paul Ruscheinski auf drei Schallplatten veröffentlicht und so vor dem Vergessen bewahrt.
Das Lied von der Linde hat mich besonders angesprochen. Die darin enthaltenen Bilder sind von, wie ich finde, zeitloser Schönheit. Der unter einer Linde schlafende Jüngling träumt, dass er sein Feinsliebchen im Arm hält, „bis dass der Tag anbrach“. In Wirklichkeit aber hat ihn das Mädchen verlassen („die Blätter von der Linde, sie fallen so arg auf mich“). Der junge Mann hofft, dass es sich seine Liebste doch noch anders überlegt, deshalb seine Ankündigung, bald wieder zu kommen. Ob sich diese Hoffnung erfüllt, das bleibt allerdings offen. Starke Bilder voller Symbolgehalt, wie das Fallen der Blätter oder das Verriegeln der Türe machen dieses Lied so interessant und stimmungsvoll.
Besonders ist auch die Stimmführung der zweiten Stimme. Wir haben sie so gesungen, wie Paul Ruscheinski dies mit seiner Tochter getan hat, um möglichst nahe am Original zu bleiben.
Wir hoffen, das Lied gefällt euch genauso gut wie uns und bringt etwas in euch zum Klingen.

Und nun wünschen wir euch viel Freude beim Lauschen, Lernen und Mitsingen.

P.S.: Die Baumkundigen unter euch werden sicher gleich merken, dass wir nicht unter einer Linde, sondern unter den Zweigen einer Eiche stehen. Auf dem schönen Wiesenweg hinter dem Kloster Roggenburg, den wir uns zum Aufnehmen ausgesucht haben, war einfach keine Linde zu finden.

Unter einer grünen Linde – Partitur

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2 Antworten

  1. Gruß aus dem Thüringer Wald an die Liederjan Musikfreunde. Ich hatte eben mal Zeit rein zuhören: Das ist euch sehr gut gelungen, lediglich die Altstimme wäre mir ein wenig dominant. Aber das soll vielleicht so sein?
    Beste Grüße von den ehemals musizierenden Eichhörnchen
    Willi u.Renate Eichhorn

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