Von Tatjana, Hopferbauer und Rock Around the Clock

Vor zwei Jahren gab mir mein Vater eine Telefonnummer, da solle ich mich  melden, es seien Noten anzuschauen. Da es eine Telefonnummer im Nachbarort Neukirchen war, vermutete ich, es würde sich um Noten der ehemals dort ansässigen Musikkapelle handeln, nach denen ich vor langer Zeit schon einmal gefragt hatte. Doch es meldete sich am anderen Ende der Leitung nicht der erwartete Familienname, sondern ein Ludwig Fronauer. Er hätte zur Zeit viele Noten da, und er wolle mir gerne in meinem Büro etwas zeigen davon.

Zum vereinbarten Termin stieg ein sichtlich betagter Herr aus seinem Auto. Mit sicherem, festen Schritt stieg er die Eingangsstufen herauf. Wir setzten uns in die Stube der Hien-Sölde, und er begann sogleich zu erzählen.

Durch Zufall habe er – als er in Landshut das Familiengrab besuchte – seinen Großneffen Josef getroffen, von dem er zwar wusste, dem er aber bis dato nicht persönlich begegnet war. Große Freude kam auf, als sie sich bekannt machten und feststellten, zur selben Familie zu gehören. Man verabredete sich zu Besuchen, dabei stellte sich heraus, dass Josef Fronauer all die Noten, die sich bereits über Generationen in der Familie angesammelt hatten, aufbewahrt.

Das Interesse war groß, die Noten zu sichten, denn es kamen damit viele Kindheits- und Jugenderinnerungen wieder auf. Mein Besucher hatte sich nämlich mitte der 1930er Jahre Taschengeld damit verdient, alte, verschlissene Notenbücher seines Onkels und Leiters der Landshuter Bauern-Kapelle „Isartaler“ zum weiteren Gebrauch abzuschreiben oder auf Festen Liedertexthefte zu verteilen, die dazu gedacht waren, das Publikum zum Mitsingen mit der Musikkapelle zu bewegen. Josef Fronauer erinnert sich, dass die Leute damals überaus zahlreich und kräftig mitgesungen haben: „Das war kein Geschrei, sondern ein Klangkörper!“

Liedertextheft
Textheft mit 69 Liedtexten; Umfang 16 Seiten

Die folgenden Informationen stammen aus Gesprächen mit Ludwig Fronauer in dessen Haus und dem eigentlichen Besitzer der Noten, seinem Großneffen Josef Fronauer IV aus Tiefenbach bei Landshut.

Mitglieder der Familie Fronauer waren vielfach Militärmusiker. Der älteste bekannte, Josef Fronauer I, geb. etwa 1823, gehörte dem Musikzug des „1ten Bay. Jägerbataillon zu Fuß“ an. Diese Truppe wurde 1857 von Straubing nach Landshut verlegt. Damit verzog auch seine Familie von Straubing nach Landshut. Dessen Sohn, Josef Fronauer II, diente ebenfalls in diesem Bataillon und wurde Kapellmeister des Musikzuges. Nach seiner Pensionierung gründete er mit ehemaligen Militärmusik-Kollegen eine zivile Musikapelle, die „Landshuter Bauern-Kapelle ‚Isartaler’“. Sie konnte als große Festkapelle mit bis zu 40 Mann auftreten. Deren letzter Kapellmeister Josef Fronauer III (der Onkel meines Besuchers) verstarb am 8. August 1940 an den Folgen eines Herzinfarktes. Eine ähnlich bedeutende Kapelle leitete Wolfgang Schwarzfischer aus Au in der Hallertau. Damit sich die beiden benachbarten Musikversorger nicht ins Gehege kommen sollten, traf Josef Fronauer mit Wolfgang Schwarzfischer eine klare Gebietsabsprache: alles, was an musikalischen Verrichtungen westlich der Linie Moosburg – Erding liegt, bildete das Schwarzfischer-Gäu (inklusive dem Münchner Oktoberfest und der gesamten Holledau), östlich davon lag das Fronauer-Gäu mit Moosburg, Landshut, Dingolfing, dem Rottal usw.

Eines der prall gefüllten Notenregale der ehemaligen Musikerfamilie Fronauer in Landshut/Tiefenbach.
Eines der prall gefüllten Notenregale der ehemaligen Musikerfamilie Fronauer in Landshut/Tiefenbach.

Ein weiterer „Vetter“ (ebenfalls Michael Fronauer; 1914-2001) – die genauen familiären Zusammenhänge müssen noch geklärt werden – übernahm zunächst die Kapelle, bis er zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft legte Michael Fronauer die staatliche Prüfung als Musiklehrer ab und gab bis zu seinem 80. Lebensjahr – also bis in die 1990er Jahre hinein – Musikunterricht. Die Blasmusik allerdings ließ er nicht mehr wieder aufleben. Stattdessen gründete er mit Ehefrau und Tochter eine Tanz-Combo, mit der er für die Amerikaner musizierte und in Landshuter Cafés auftrat. Parallel dazu leitete er das Siemens-Sinfonie-Orchester. Sein Sohn und letzter Besitzer der Notensammlung, Josef Fronauer IV, hat zwar auch das Musikhandwerk gelernt (Violine, Klavier, Saxophon, Klarinette), ist aber nicht in die Fußstapfen seiner Vorfahren getreten.

Bildunterschrift
In solchen großformatigen Einschlägen wurde die Konzertmusik aufbewahrt, wie hier das Intermezzo „Tatjana“ von John Lindsay für Salonorchester.

Die gesamte Notensammlung Fronauer wurde am 1. März 2016 vom Landesverein erworben, da die Familie keine Verwendung mehr dafür hatte. Sie Sammlung umfasst rund 4000 Notenmappen (überschlagsmäßig ausgezählt anhand von Fotos und des bisherigen Teilregisters, das Ludwig Fronauer Neukirchen handschriftlich begonnen hat). Solche Sammlungen gibt es kaum mehr in dieser Fülle und Kompaktheit. Es ist die Unterhaltungsmusik, Konzertmusik und Tanzmusik über ein komplettes Jahrhundert (ca. 1870-1970) inklusive auch der „traditionellen bayerischen Tanzmusik“. Musik, wie sie bei den Jahresturnen der Turnerschaft Landshut, bei den sonntäglichen Konzerten den Sommer über im Landshuter Heiß-Garten, bei den Volksfesten im Zelt, bei dörflichen Kirchweihen, Hochzeiten, Faschingsbällen, bei Beerdigungen, in Cafés usw. gebraucht wurde, vom großen Blas- und Salonorchester bis zur kleinen Besetzung, in gedruckten Ausgaben oder in handschriftlichen Aufzeichnungen. Sie bietet damit eine überaus wertvolle Quelle zur Erforschung des Musikgebrauchs.

Bildunterschrift
Seite aus einem handgeschriebenen Melodienbuch für „Tromba I in B“, hauptsächlich mit Landlerpartien, aber auch weiteren Rundtänzen und taktwechselnden Tänzen. Unter Nr. 5 ist hier der im Titel genannte „Hopferbauer“-Zwiefache eingetragen.

Mit dem nun bald 95jährigen Ludwig Fronauer in Neukirchen gibt es außerdem noch einen unglaublich rüstigen, kenntnisreichen Gewährsmann, dessen Erinnerungen bis in die Mitte der 1930er Jahre zurückreichen. Er hat zu den Beteiligten Quellenforschung im Landshuter Hauptstaatsarchiv betrieben und kann zudem von vielen Episoden um die Musikauftritte der Kapelle seines Onkels erzählen.

Bildunterschrift
Nicht alle aktuellen Nummern standen sofort zum Kauf zur Verfügung. Manches musste zunächst von Hand aufnotiert werden, wie hier Bill Haleys Titel Rock Around the Clock aus dem Jahr 1954, der die Geburtsstunde der modernen Popmusik markierte.

Veröffentlicht von

Franz Schötz

Leiter der Volksmusikstelle Niederbayern und Oberpfalz, Mitterfels

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